Jemen – Zahlen ohne Gesichter – 11 Jahre Bürgerkrieg
Malte I. Lauterbach

Zerstörtes Krankenhaus. Eins der ersten Opfer des Krieges - zivile Infrastruktur.

In seinem Artikel „Zahlen ohne Gesichter“ (engl. “The Untold Casualties of War“) schreibt Malte Lauterbach über die Schicksale im Bürgerkrieg im Jemen. Das Stück erschien 2020 auf Englisch und wurde 2022, zum Jahrestag des Kriegsbeginns, erstmals übersetzt und grundlegend überarbeitet. Der Artikel entstand ursprünglich vor den Ereignissen des 07. Oktober 2023 und den seither regelmäßig erfolgenden Raketen- und Drohnenangriffen der Huthi-Bewegung auf Israel. Teilweise wurden seit dem Informationen erneuert und redigiert.

Wenn Journalistinnen und Journalisten über Kriege berichten, reden wir oft in Zahlen – so und so viele Tote, so und so viele Verletzte. Das lässt den Leserinnen und Lesern – ob beabsichtigt oder nicht – nur Statistiken, aber keine Gesichter sehen. Doch hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Leben, ein Freund, ein Feind, eine Seele, vielleicht eine künftige Erfinderin.

Ich frage mich, über wie viele Leben wir berichten können, bevor wir in den Zahlen ertrinken. Im Zuge des Arabischen Frühlings kam es auch im Jemen 2011 zu Massenprotesten, die in einer Revolution kulminierten.

Dort begegnete der Welt erstmals die Huthi-Bewegung (Ansar Allah, arabisch ٱلْحُوثِيُّون) – eine islamistische Terrorgruppe eine Bewegung, die von den meisten Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. 2004 rückte sie in den Fokus der Weltöffentlichkeit, als ihr Slogan „Gott ist groß, Tod den USA, Tod Israel, Fluch den Juden, Sieg dem Islam“ bekannt wurde. Zusammen mit anderen Oppositionsgruppen organisierten sie Proteste. Damals agierten sie – ungeachtet ihres Mottos – noch eher wie eine politische Kraft und nahmen an Konferenzen über Jemens Zukunft teil.

Ende 2014 nahmen die Huthis ihre Beziehungen zum 2011 gestürzten Präsidenten Ali Abdullah Saleh wieder auf und übernahmen binnen kurzer Zeit mit koordinierten militärischen und politischen Aktionen die Kontrolle über die Hauptstadt Sanaa und große Teile des Nordens. Seither kämpfen sie gegen die von Saudi-Arabien angeführte Koalition, die versucht, die international anerkannte Regierung wieder einzusetzen. Ihre wichtigste externe Unterstützung stammt vor allem aus dem Iran; punktuell wird über Kooperationen mit Russland berichtet. Seit 2015 greifen Huthi-Einheiten wiederholt Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate an – Angriffe, die weltweit überwiegend als iranische Proxy-Operationen eingeordnet werden. Die eingesetzten Drohnen leiten sich von iranischen Qasef-1/2k-Modellen ab; Drohnen, deren direkte Bruder, die Schahed-136 unter anderem in der Ukraine vermehrt gegen zivile Ziele eingesetzt wird.

Die Huthi-Angriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer seit November 2023 haben den Konflikt internationalisiert. Die USA, das Vereinigte Königreich und Verbündete starteten im Januar 2024 Operation Prosperity Guardian zum Schutz der Schifffahrt und führten bis Januar 2025 mehrere Luft- und Raketenangriffe gegen Huthi-Stellungen durch

Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2014 starben im Jemen Hunderttausende Menschen – Hunderttausende von Träumen, Leben, Erinnerungen und Ideen gingen verloren. Nach UN-Schätzungen kamen bis Ende 2021 über 500 000 Menschen ums Leben (direkt und indirekt). Das bedeutet im Schnitt etwa ≈ 130 Tote pro Tag – 5 pro Stunde, also rund einmal alle 11 Minuten. Nicht alle sterben durch direkte Kriegshandlungen: Seit 2014 wird das Land von Hungersnöten und Cholera heimgesucht. Jemen gilt als eines der ärmsten Länder der Welt; die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt aktuell rund 64 Jahre. In vielen Regionen ist die Versorgung mit sauberem Wasser zusammengebrochen, Strom gibt es nur sporadisch. Mehr als 4,8 Millionen Menschen wurden bisher vertrieben, Familien auseinandergerissen. 2025 benötigen laut UN 19,5 Millionen Menschen humanitäre Hilfe.

2020 hatte ich die Ehre, mit dem jemenitischen Mann Aaron zu sprechen – sein Name bedeutet „Berg der Stärke“. Er selbst sprach wenig, ließ vielmehr mich erzählen, wer ich war, woher ich kam. Über das, was er gesehen hatte, über die Brandwunden an seinem Körper, verlor er kein Wort. Ich wusste es. Er wusste es. Wir alle wussten, was passiert war, nicht aber, warum es passiert war: warum die Huthi-Kämpfer sein Haus, seine Frau, seine Tochter, all die Erinnerungen ausgelöscht hatten. Sein Kind war nicht einmal acht Jahre alt geworden.

Was mich an Aaron am meisten beeindruckte, war, dass er seine Hoffnung nicht verlor. Selbst in den dunkelsten Zeiten vertraute er auf Liebe, Familie, Menschlichkeit.

Ich frage mich, wie viele Menschen jemand auslöschen kann, bevor die Zahlen ihn zerstören. Aus Aarons Geschichte lernte ich viel über menschliches Verhalten. Hoffnung ist ein mächtiges Werkzeug – zum Überleben, zum Leben, zum Kämpfen, auch wenn es nichts mehr zu verteidigen gibt. Obwohl von Hana, seiner Tochter („Glück“), nur Erinnerungen und ein paar unverbrannte Fotos blieben, kämpfte er weiter. Doch im Strom der Ereignisse ist Hana nur eine Nummer – ein Tod, der der Welt verborgen blieb.

Bis 2020 kannte hier, in einem Europa ohne Bürgerkrieg, ohne Cholera, ohne Hungersnot, niemand die Geschichte von Aarons Familie. Sie steht für Tausende weitere, die darauf warten, erzählt zu werden – als Mahnung an eine Welt, die oft wegschaut.

Es ist unsere Pflicht, den Zahlen Gesichter zu geben. Wir müssen den Toten Leben einhauchen, verlorene Erinnerungen bewahren, den Hinterbliebenen beim Trauern helfen. Wir müssen die Geschichten von Hana, Abia und unzähligen anderen Jemenitinnen und Jemeniten erzählen, deren Namen in keinem Geschichtsbuch stehen. Erinnern an diejenigen, die nicht überlebten; an Abu Khamis, der bat, neben seiner Familie begraben zu werden, damit sie sich im Tod trösten.

Wer einmal Leid gesehen hat, wird ihm wieder begegnen. Als Menschen sind wir gezwungen, uns zu erinnern – an das, was geschah, was verloren ging, was blieb. Diese Erinnerung mahnt uns, vor dem zu warnen, was geschieht.

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Sie kennen jetzt die Namen Aaron und Hana – und damit sind sie nicht verloren.

Malte Ian Lauterbach, an der Grenze zum Libanon, 2024.